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Wer vor einer Entscheidung auf Leben und Tod steht, darf nicht zaudern, sonst wird er in der Zwickmühle zerrieben.
Aus ›Im Hause meines Vaters‹,
von Prinzessin Irulan
Die große Statue von Herzog Miklos Atreides, Letos Urgroßvater väterlicherseits, stand im Hof des Krankenhauses von Cala City und hatte im Laufe der Jahre eine immer dickere Schicht aus Moos und Vogelkot angesetzt. Als Leto am strengen Antlitz seines Vorfahren vorbeiging, dem er niemals persönlich begegnet war, verneigte er sich gewohnheitsmäßig, um ihm seinen Respekt zu erweisen, und eilte dann die breiten Stufen aus Marmorplaz hinauf.
Obwohl er immer noch leicht humpelte, war Leto im Wesentlichen von seinen Verletzungen genesen. Nun war er wieder in der Lage, sich den Herausforderungen eines neuen Tages ohne den schwarzen Abgrund der Verzweiflung zu stellen. Als er das höchste Stockwerk des Krankenhauses erreicht hatte, war er kaum außer Atem.
Rhombur war erwacht!
Der Leibarzt des Herzogs, der Rhombur bis zum bevorstehenden Eintreffen des Cyborg-Teams behandelte, begrüßte ihn. »Es ist uns gelungen, mit dem Prinzen zu kommunizieren, Mylord.«
Medizinische Assistenten in weißen Kitteln standen um die Lebenserhaltungswanne und die komplizierten Injektoren und Blutreinigungspumpen. Die Maschinen summten und surrten wie in den vergangenen Monaten. Doch jetzt war alles anders.
Der Arzt hielt Leto noch einen Moment zurück und sagte: »Wie Sie wissen, hat der Prinz ein schweres Trauma an der rechten Schädelseite erlitten. Doch das menschliche Gehirn ist ein erstaunliches Instrument. Rhomburs Zerebellum hat bereits die Kontrollfunktionen in neue Regionen verlagert. Informationen fließen durch die Nervenbahnen. Ich glaube, das dürfte die Arbeit des Cyborg-Teams erheblich erleichtern.«
Tessia stand vor dem sargförmigen Gebilde und starrte darauf. »Ich liebe dich, Rhombur – daran konntest du nicht einen Augenblick lang zweifeln.«
Eine synthetische Stimme, die aus einem Lautsprecher drang, antwortete ihr. »Ich ... liebe ... dich ... auch ... und ... werde ... dich ... immer ... lieben.« Die Worte kamen klar und präzise, doch stets mit einer kurzen Pause, als hätte sich Rhombur noch nicht richtig an diese Art des Sprechens gewöhnt.
Fasziniert beobachtete der Herzog die Szene. Wie konnte ich nur in Erwägung ziehen, ihn den Tleilaxu auszuliefern?
Die Wanne war geöffnet und enthüllte den vernarbten Klumpen aus Fleisch und Knochen, der noch von Rhombur übrig war. Überall führten Schläuche und Drähte in den Körper. Der Arzt erklärte: »Zuerst konnten wir uns nur über einen ixianischen Code mit ihm verständigen ... in Form von kurzen und langen Signalen. Aber jetzt ist es uns gelungen, sein Sprachzentrum mit einem Synthesizer zu verbinden.«
Das noch vorhandene Auge des Prinzen war offen und hatte nun den Glanz von Leben und Bewusstsein. Leto starrte längere Zeit in das Gesicht, das keine Ähnlichkeit mit Rhombur mehr hatte, und wusste nicht, was er zu ihm sagen sollte.
Was denkt er? Seit wann weiß er, was mit ihm geschehen ist?
Künstliche Worte kamen aus dem Lautsprecher neben der Wanne. »Leto ... Freund ... Wie ... machen ... sich ... dieses ... Jahr ... die ... Korallen ... Juwelen? Warst ... du ... mal ... wieder ... tauchen?«
Leto musste vor Erleichterung lachen. »Besser als je zuvor, Prinz! Wir werden sie uns schon bald gemeinsam ansehen können!« Plötzlich standen ihm Tränen in den Augen. »Entschuldigung, Rhombur. Ich sollte dich nicht anlügen.«
Rhomburs Körper rührte sich nicht. Leto bemerkte nur leichte Muskelzuckungen unter der Haut. Die synthetische Stimme übertrug keine Gefühle oder Betonungen.
»Wenn ... ich ... ein ... Cyborg ... bin ... bestellen ... wir ... einen ... speziellen ... Anzug. Dann ... gehen ... wir ... tauchen. Wart ... es ... ab.«
Es schien, dass der Prinz die dramatische Veränderung seines Körpers akzeptiert hatte – und sogar die Aussicht auf Cyborg-Ersatzteile. Seine Gutmütigkeit und sein ansteckender Optimismus hatten Leto über die schwerste Zeit nach dem Tod des alten Herzogs hinweggeholfen. Jetzt würde Leto für Rhombur da sein.
»Bemerkenswert«, sagte der Arzt.
Rhomburs Auge blieb unentwegt auf Leto gerichtet. »Ich ... möchte ... ein ... Harkonnen ... Bier.«
Leto lachte. Tessia ergriff seinen Arm. Der grausam verstümmelte Prinz würde trotz allem mit unermesslichen physischen und mentalen Schmerzen leben müssen.
Rhombur schien zu ahnen, was Leto durch den Kopf ging, und seine nächsten Worte kamen bereits etwas flüssiger. »Sei ... meinetwegen ... nicht traurig. Sei glücklich. Ich ... freue mich ... auf ... meine ... Cyborg-Ersatzteile.« Leto beugte sich tiefer über ihn. »Ich ... bin Ixianer ... Maschinen ... sind mir ... nicht fremd!«
Leto kam das alles so unwirklich, so unmöglich vor. Und doch geschah es. In den vergangenen Jahrhunderten war die Cyborg-Technik stets daran gescheitert, dass der menschliche Körper die künstlichen Elemente abstieß. Die Psychologen behaupteten, dass sich der menschliche Geist weigerte, eine so enge Verbindung zu Maschinen zu akzeptieren. Diese tief verwurzelte Angst reichte in die Zeiten der schrecklichen Maschinenherrschaft vor Butler zurück. Angeblich hatte dieser Suk-Arzt im Verlauf seiner intensiven Forschungen auf Richese derartige Probleme gelöst. Nur die Zeit würde Gewissheit bringen.
Selbst wenn die Komponenten erwartungsgemäß funktionierten, würde sich Rhombur kaum besser bewegen können als die steifen ixianischen Kampfmaschinen. Die Anpassung würde nicht einfach sein, und feinste Nuancen der Steuerung wären unmöglich. Würde Tessia ihn angesichts seiner Verletzungen und Behinderungen allein lassen und zur Schwesternschaft zurückkehren?
In seiner Jugend hatte Leto gebannt zugehört, wenn Paulus und die Veteranen unter seinen Soldaten von schwer verwundeten Männern erzählten, die unglaublich tapfere Leistungen vollbracht hatten. Beispiele für den Triumph des menschlichen Geistes über die widrigsten Umstände. Leto hatte solche Dinge niemals mit eigenen Augen gesehen.
Rhombur Vernius war der tapferste Mensch, dem Leto jemals begegnet war.
* * *
Zwei Wochen später traf Dr. Wellington Yueh von Richese ein, begleitet von vierundzwanzig Männern und Frauen aus seinem Cyborg-Entwicklungsteam und zwei Shuttles voller medizinischer Ausrüstung.
Herzog Leto Atreides überwachte persönlich die Arbeiten, als seine Leute das Team in Empfang nahmen. Der bleistiftdürre Yueh war äußerst penibel und nahm sich kaum die Zeit, sich vorzustellen, sondern hastete im Raumhafen hin und her, um sich zu vergewissern, dass mit den Frachtkisten alles in Ordnung war. Darin befanden sich seine Instrumente und die Prothesen, die an Rhomburs Körper angepasst werden sollten.
Bodenfahrzeuge transportierten das Personal und die Fracht ins Krankenhaus, wo Yueh darauf bestand, den Patienten sofort zu sehen. Der Suk-Arzt wandte sich an Leto, als sie das Gebäude betraten. »Ich werde ihn wieder ganz machen, Herr, aber es wird einige Zeit dauern, bis er sich an seinen neuen Körper gewöhnt hat.«
»Rhombur wird alles tun, worum Sie ihn bitten.«
Tessia war die ganze Zeit nicht von Rhomburs Seite gewichen. Yueh eilte elegant zur Lebenserhaltungswanne und studierte die Verbindungen und Anzeigen der Instrumente. Dann erst sah er sich den Prinzen an, der den Blick des Arztes mit seinem bizarren Auge im verwundeten Fleisch erwiderte.
»Machen Sie sich bereit, Rhombur Vernius«, sagte Yueh und strich sich über die langen Schnurrbartenden. »Ich habe vor, schon morgen mit den ersten chirurgischen Eingriffen zu beginnen.«
Rhomburs synthetische Stimme hallte durch das Zimmer und klang bereits etwas geübter. »Ich freue ... mich schon darauf ... Ihnen ... die Hand zu schütteln.«